Quallenalarm!

W. Kraushaar 11/2004

Ich habe mich ohne Murren damit abgefunden, dass ich so lange arbeiten muss, wie es Augen, Ohren und Gelenke zulassen. Dass der 100jährige Vertrag von Bismarck nach eben 100 Jahren ausläuft, stand ja drauf. Um mir also die Vitalität zu erhalten, die bislang geltende Lebensarbeitszeit um 25 Jahre verlängern zu können, bemühe ich mich täglich um ein gewisses Quantum sportlicher Betätigung.

Ich bemühe mich, aber ich schaffe es nicht immer. Nein – nicht, weil das Fleisch zu schwach ist, weil ich zu träge bin – nein! Weil ich – wie soll ich sagen – einfach nicht dran komme.

Kurz nach sieben stehe ich an der Kasse des Schwimmbads in der Reihe. Die alte Dame vor mir sucht nach ihrer Ermäßigungskarte für Rentner. Das fängt ja wieder gut an. Irgendwann bin ich auch an der Reihe und eile in die Umkleidekabine. Hier heißt es: Sekunden gewinnen für „die Bahn“, den Streifen, den man für die Dauer des Schwimmens für sich beanspruchen kann. Wenn es einen freien Streifen gibt! Ich muss also vor den Rentnern im Wasser sein. Ich liege gut in der Zeit, doch mit dem Betreten des Herren-Duschraums verfliegen alle Hoffnungen. Die Rentner sind schon da. Ich meine nicht die an der Kasse. Ich meine alle Rentner!

„Mal wieder alle früh auf den Beinen“ murmele ich. „Jaaa,“ ruft eine zitternde Greisenstimme gegen das Fauchen der Duschköpfe an, den bösen Unterton in meinem Satz fröhlich ignorierend, „ der frühe Vogel fängt den Wurm!“ Ich betrachte den Mann, der sich gebeugt an der Armatur festhält, um die Badehose auszuziehen. Vogel.... Nandu – denke ich. Aber frisst der nicht Aas?

So lange die sich hier alle waschen, habe ich noch Chancen, eine Bahn zu ergattern. Katzendusche reicht. Arme, Hintern, Piller, raus! Das große Becken ist voll. Wie immer. Ich gehe zu dem kleinen, dem Springerbecken. Könnte noch klappen, wenn ich mir mit einer Arschbombe Platz verschaffe. Die Rentner weichen etwas beiseite und ich habe meinen Meter für mich. Ich finde, ein Meter für knapp drei Euro, das ist jetzt nicht vermessen. Doch dann kommt die Invasion der restlichen Rentner aus der Dusche. Die Männer mit Badekappen und Altersstarrsinn im Blick, die Frauen mit Dauerwellen, die eine ähnliche Funktion übernehmen könnten, jedoch durch die Anwendung von härtendem Haarspray im Vergleich einen vielfach höheren Aufprallschutz bieten. Die Omas schieben ihre stinkenden Haarhelme über die Wasseroberfläche, die nur ein mal im Monat vom Friseur angefasst werden dürfen, bei jedem Spritzer grimassierend. Ich habe übrigens selten eine Frau mit nassem Badeanzug aus der Dusche kommen sehen. Es ziemt sich nicht nachzusehen, was sie dort machen. Vermutlich härten sie ihre Frisuren. Dann kommen sie mit hoch gehaltenen Armen, „huhuhu!“ und „hahaha!“ rufend, ins Wasser. Ungewaschen. Letztes gilt genauso für die Weiber meiner Generation. Das schöne Geschlecht ist schmuddelig. Zumindest im Schwimmbad.

Im Moment haben sie sich alle hier versammelt, um mir meinen Meter streitig zu machen. Genauer gesagt; um so lange vor mir her zu quallen, bis ich entnervt aufgebe. Ja, quallen! Fast senkrecht im Wasser stehend, zucken sie wie Medusen durch das Wasser. Jedoch entbehrt die Bewegung jeder Eleganz. Ich denke eher an Schnappatmung verendender Fische und Defilbration. Ein Einkaufsbummel würde diesen Leuten mehr Bewegung abverlangen, selbst Busfahren wäre ein besseres Kreislauftraining. Aber vielleicht habe ich auch den Sinn nicht verstanden und es geht nur um die gemeinsame Reinigung im großen Becken... Ich verlasse schnell diesen Gedanken, bevor mir übel wird, versuche mich neu und liberal zu sammeln und sage: Kann ja jeder machen, wie er will. Aber warum muss es denn jeder gerade dann machen, wenn ich es machen will? Ich bringe mit Anstrengung ein gewisses Verständnis dafür auf, dass unsere Rentner, wissend, dass sie als letzte in den Genuss einer Staatlichen Existenzabsicherung kommen, mit protestantischer Verbissenheit versuchen, 120 Jahre und älter zu werden. Dass ihre Beweggründe, „Sport“ zu treiben sich damit von den meinen diametral unterscheiden, muss ich als Teil der Entwicklung unserer Gesellschaft hinnehmen.. Warum die Rentner jedoch nicht während der 10 Stunden im Wasser zucken können, in denen ich für ihre Pensionen und Bezüge arbeite, dafür habe ich kein Verständnis. Mehr noch: Ich nehme es ihnen ausgesprochen übel! Mein Gott – warum kann der Rentner seine Mykosen nicht nach dem Essen auf Rädern wässern? Oder von mir aus vor dem Schlafengehen. „10 Millionen Rentner müssen nachts raus...!“ ...bis auf die, die vorher noch mal ins Becken pullern... Wäre mir fast auch noch egal. Aber nein! Sie müssen alle morgens, wenn ich auch will. Das überlebe ich nicht! Ich bin ihnen einfach an Zahl und Alter unterlegen. So steht zu befürchten, dass sich die selben quietschfidelen Medusen in 50 Jahren meinem gestressten Sohn mit der Rentnerkarte vordrängeln und ihm zuzwinkern: “Der frühe Vogel fängt den Wurm!“ Das nenne ich die Gnade der frühen Geburt.