Von allen Saiten
„Walter – schreib doch mal was über Saiten!“
Toll!
Was hat mich nur geritten, mich auf diesen Auftrag einzulassen?!?
Nur die Sterne am Himmel sind zahlreicher, als die Saitentypen und ihre Umspinnungsarten.
Darm-, Stahl-, Nylon-, Carbon-, runder und hexagonischer Kern, Einfach- und Mehrfachumspinnung aus Silber, Kupfer, Nickel, Stahl, rund, flach, geschliffen, gewalzt …
Ich meine, man hätte schon mal einen Kollegen verhungert vor dem Rechner gefunden, der nur versucht hatte, alle Arten aufzuzählen. Die Buchstaben waren aufgebraucht und der Strom war leer.
Nää! Das mache ich nicht!
Aber so unterschiedlich Saiten auch sind, so gibt es dennoch eine Übereinstimmung:
Ein Satz Saiten sollte so beschaffen sein, dass man ihn auf eine x-beliebige E-Gitarre aufziehen kann, ohne danach den Gitarrenbauer für eine Oktaveinstellung bemühen zu müssen.
Wäre es anders – müsste ich also für „Firefinger-Strings“ die Brücke komplett umstellen, und wären sie ansonsten auch noch so gut – fiele die Begeisterung der meisten User bescheiden aus. Ich wäre auch missvergnügt, wenn der Motor meines Autos nur Shell-Benzin vertrüge.
Es besteht also ein großes Interesse aller Saitenhersteller, ihre Drähte so zu machen, dass man ohne Probleme die Saiten der Konkurrenz runter werfen und ihre Produkte aufziehen kann!
Ihr habt vermutlich kaum bemerkt, dass ich das Thema soeben geschickt auf den Stahl eingegrenzt habe …
Unabhängig von den unterschiedlichen Umspinnungen ist der verwendete Kern-Stahl für Saiten nahezu identisch, sodass wir jetzt grundsätzliche Betrachtungen anstellen können.
Es wird immer noch umfangreich genug. Also legt Euch ein Butterbrot parat. Es könnte länger dauern …
Die blanke Stahlsaite
Wenn wir an einem Gummi ziehen, erleben wir sofort, wie er sich dehnt. Sein Ton ändert sich dabei zu Anfang kaum. Erst wenn der Gummi hart wird, ändert sich mit der Spannung auch der Ton.
Ziehen wir aber an einem Stahl, passiert das Gegenteil. Zu Anfang steigt nur die Spannung und mit der Spannung die Tonhöhe. Ab einer deutlichen Belastung beginnt er langsam elastisch zu werden. Bei weiterer Belastung kippt das Verhältnis von Spannung und Elastizität, so dass ich immer mehr an der Mechanik drehen muss, um den Ton zu erhöhen.
Spannungsänderung überträgt sich linear auf die Tonhöhe. Elastizität wirkt dem jedoch entgegen! Je elastischer eine Saite, desto unempfindlicher reagiert sie durch Tonänderung auf Spannungsänderung.
Zwar sprechen Physiker bei Stahl von einer „Elastizäts-Konstanten“, diese bewegt sich aber nicht parallel zur Spannung. Und so beobachten wir, dass die sechs Saiten alle unterschiedlich auf das Dehnen beim Niederdrücken reagieren.
Eine unterschiedliche Kompensation für jede Saite!
Die Spannung – und damit ihr Elastizitätspunkt – für jede Saite ist durch deren Frequenz und die Mensur (die Länge der leer schwingenden Saite) festgelegt. Ich will es hier den „E-Punkt“ nennen. Mit den unterschiedlichen Tönen der Gitarre der bekommen wir für für jede Saite einen anderen „E-Punkt“. .
Ein Versuch zum Verständnis?
Nimm Dir eine E-Gitarre mit Vibrato und spiele die hohe E Saite an. Jetzt verringere sie mit dem Vibrato um einen Ganzton. Wo ist jetzt die G-Saite? Sie sackt in der Größenordnung einer großen Quarte, oder gar einer Quinte – also 4-5 mal so weit!
Die E' befand sich bereits in einem deutlich höheren Dehnungbereich. Ihre Kollegin, die G-Saite, war kaum elastisch gespannt und erschlaffte sofort. Darum sind (blanke!) G-Saiten auch immer die Zicklein unter den Drähten. Andererseits reagieren sie gerade darum besonders sensibel auf Bendings und lassen sich mit der geringsten Kraft ziehen und so haben sie ihre Berechtigung.
Aber zurück zur Kompensation: Beim Niederdrücken überhöhe ich den Zielton, weil ich die Saite verlängere. Die Differenz hängt wieder vom individuellen E-Punkt ab. Üblicherweise kompensieren wir Gitarrenbauer das über einzeln justierbare Böckchen in der Brücke, indem wir die Saite verlängern. Das Ergebnis ist aber nur eine Annäherung, da sich die Spannungs/Dehnungs-Verhältnisse an unterschiedlichen Positionen des Griffbretts verändern. Besonders, wenn ich mich dem höher gelegenen Sattel nähere.
Dieses tückischen Phänomens haben sich schon viele Gitarrenbauer angenommen: Sei es durch gebogene Bünde, kompensierte Sättel, oder einen verkürzten 1. Bund, wie ich und manche Kollegen es machen.
Wer bei der Summe dieser Widrigkeiten jetzt an die Hummel denkt, die nur darum fliegen kann, weil sie nicht weiß, dass sie zu schwer für die kleinen Flügel ist, liegt im Prinzip schon ganz richtig.
Aber unsere Hummel hier hat nur einen Flügel!
Da wären nämlich noch die Mensur und die Vorsaite!
Die Länge der schwingenden Saite beeinträchtigt die Saitenspannung.
Die 0.17er G-Saite zieht an einer Strat mit 86,3 Newton (wäre in Gewicht 8,63Kg)
Auf einer Les Paul sind es nur noch 78,5 Newton. Das sind schon mal gut 10% weniger!
Je nachdem, auf welchem E-Punkt wir uns mit unserer Seite befinden, kann das schon ganz deutliche Effekte erzeugen!
Aber zuvor noch eine Erklärung zum Begriff der „Vorsaite“.
Bei einem Locking-System klemme ich die Saite an Sattel und Brücke ab. Die gesamte Saite ist hier genau so lang wie die Mensur.
Bei einer Jazz-Gitarre habe ich noch 80mm Saite von der Brücke bis zum Tailpiece und 150mm vom Sattel bis zur Mechanik.
Zwar ist die Spannung der Saite zwischen Sattel und Brücke bei beiden Systemen mit gleicher Mensur identisch, jedoch sind bei der Jazz-Gitarre da noch stattliche 230mm Draht, die mitfedern können. Hey, das ist gut die Länge von der Null bis zum 9. Bund!
Logischerweise erscheint aus diesem Grunde das Locking-System viel härter als die selbe Mensur mit Vorsaite – und das bei der selben Spannung und dem selben E-Punkt!
Was bedeutet das im Betrieb?
Die Saiten kürzerer Mensuren sind im E-Punkt weniger elastisch.
Bei harten Anschlägen schwingen sie schnell „over the top“.
Dabei entsteht beim Einschwingen ein Moment des erwünschten Chaos. Die Saite gerät aufgrund ihrer geringen Dehnung schnell an und über ihre maximale Amplitude. Der Akkord fliegt für einen Moment auseinander. Dazu eine Klammer*.
Niemand würde so eine cleane Ballade spielen wollen, aber mit der Kompression eines verzerrten Verstärkes bekommt das im Rock durchaus seinen Reiz. Leichte Instrumente mit kurzer Vorsaite „bellen“, schwere werden aufgrund ihrer Trägheit im Einschwingvorgang „fett“. Als Protagonisten fallen einem hier LP Junior, SG und LP ein.
Die Verlängerung der Vorsaite bei Jazz-Gitarren führt zu dem bekannt ploppigen Ton und lässt die dicken Saiten noch relativ weich erscheinen. Surf-Gitarren mit dünnen Saiten federn bei langer Vorsaite ewig durch und brauchen entsprechend lange, bis sie sich fangen.
Übrigens ändert die Dicke der blanken Saite nichts am E-Punkt, denn alle Kräfte wachsen analog mit dem Querschnitt. Darum ist eine 008er E' exakt genauso weit gedehnt wie eine 013er, aber die Spannung der Letzten ist natürlich erheblich höher. Wird sie höher als die Kraft des Spielers, verringert sich das Chaos beim Einschwingen oder bleibt sogar aus.
Mit der Verlängerung der Mensur wandert der E-Punkt immer weiter in den elastischen Bereich.
Viele Probleme verringern sich dadurch: Die Stimmbarkeit verbessert sich, die blanke G wird weniger empfindlich. Die einzelnen Saiten schwingen dadurch sauberer. Intervalle werden präziser und schneller verständlich. Der Ton wird eleganter, aber auch schlanker. Strecken wir die Mensur weiter, entsteht trotz höherer Spannung erstaunlicherweise das Gefühl einer weicheren Saite, was nur im ersten Moment paradox klingt: Die Elastizität ist überproportional angewachsen! Die Verbesserungen klingen verlockend, aber der schlanke Ton ist nicht jedermanns Sache.
Schönheit und Rock'n Roll sind nicht immer die besten Freunde.
Im Gegensatz zum klassischen, Jazz- und Western-Ton, bei dem es auf Klar- und Erkennbarkeit ankommt, lieben viele Gitarristen im Rock das Chaos in der Zehntelsekunde des Anschlags. Die Unterschiede hier sind so fein, dass man sie vermutlich gar nicht darstellen kann, aber groß genug, dass wir sie alle kennen.
Wer mir bis hier gefolgt ist, wird verstehen, dass ich keine Empfehlung zu irgend einer Saite geben kann.
Ich könnte nur empfehlen, die Angaben der Hersteller mit dem Selbstversuch abzugleichen oder sich ein Instrument zu suchen, dessen physikalische Eigenschaften die größte Deckung mit den persönlichen Präferenzen hat.
Vielleicht sind meine grundsätzlichen Ausführungen bei der Suche hilfreich.
Ich würde mich freuen!
Aber vorher ins Bütterchen beißen … Ihr seht schon ganz schwach aus!
Ach so: Für Linkshänder-Saiten gilt natürlich grundsätzlich dasselbe – nur genau anders herum.
#linkshänderdissing
Klammer auf:*
Wenn zwei Wellenberge aufeinander treffen, entsteht eine Welle in doppelter Höhe; im Meer wie auf der Gitarre. Wir kennen das als „Schwebung“, die „uijuijuijuijuiiii“ macht, wenn wir zwei Saiten auf denselben Ton stimmen. Dieser „Differenzton“, der doppelt so laut wie die Originaltöne ist, ist die Konsequenz der zwei Wellen im Intervall. Es entsteht ein harmonischer Dreiklang, dessen Differenzton höher wird, je weiter die Grundtöne voneinander entfernt sind. Je mehr Töne im Intervall, desto mehr Differenztöne. Ein Akkord, dessen Teiltöne im Einschwingvorgang schweben, erzeugt ein chaotisches Mehr an Ober- und Differenztönen, die wabern und schwingen. Das kann ein rauhes Bellen sein, wie bei einer leichten, kurzen Rock-Gitarre, ein fettes Röhren, wie bei einer schweren Rock-Gitarre, oder das schillernde Eiern einer Surf-Gitarre. (Ähnliche Effekte durch stark resonierende Hälsen ignorieren wir hier.)
Klammer zu.