Tausche Tabelle gegen Wochenende!

W. Kraushaar 01/2005

Haben Sie einen altmodischen Nachbarn? So einen, den man sofort erkennt? Der nach Mottenkugeln riecht und noch Klamotten aus den 80ern trägt? Mit abgestoßenen Ärmelbündchen und aufgenähten Ellenbogenschonern? Einen, hinter dem die Kinder her simmsen „Karteikarten Karl! Karteikarten Karl!“ Ein Technik Loser, Internet Verweigerer, Handy Verlierer, Geheimnummern Vergesser, Payback Versager?
Nein?
So einen kennen Sie nicht?
Rätselhaft!
Komischerweise gibt es diese Art Mensch kaum.
Ist das nicht seltsam?

All diese Zeitersparnis. Diese Bequemlichkeit. Die kabellose Übertragung, die semiintelligenten Programme, Textbearbeitung, Tabellenkalkulation, Steuerberechnung, Bilder und Musik – und das im Dialog quer über den Planeten. Wow! Wir halten das Laserschwert der Yedi in Händen, während unser Karteikarten Karl mit einem Faustkeil herum stolpert.
Aber warum bin ich dann nicht reich? Ich meine, wenn ich all die Dinge, für die 99% der Weltbevölkerung richtig viel Zeit und Geld investieren müssen, wenn ich all diese Dinge mit einem Klick erledigt habe, sollte ich doch entweder....

  • sehr viel mehr Aktivitäten pro Tag zum Reichwerden ausführen
  • oder mein Leben mit einem minimalen Aufwand bestreiten können.

Ich sollte also entweder stinkreich, oder stinkfaul sein. Beides trifft leider nicht zu. Was also mache ich falsch, wenn es keinen Unterschied zwischen mir und Karteikarten Karl gibt?

Schauen wir doch mal:

Während Karl seine Karten beschriftet, formatiere ich gerade meine Festplatte, während er ein Formular ausfüllt, quäle ich mich durch das Handbuch der neuen Software, während er zum Briefkasten läuft, warte ich auf das Einloggen bei meinem Provider. Während er seinen Terminkalender überprüft, checke ich meine Mailbox, während ich im Forum hänge, liest er seine Post, während er das Altpapier entsorgt, installiere ich das Virenprogramm, während ich die Festplatte defragmentiere, putzt er sein Büro, während er kocht, bestelle ich Pizza, während er Arbeitszeit im Supermarkt verplempert, verplemper ich Geld an der Snackbar von Bäckerei und Tanke.....

Wenn die Technik den Aufwand des Daseins tatsächlich reduziert hat, so haben wir diesen Vorteil sofort und in gleichem Maße wieder an Selbständigkeit und Kosten eingebüßt. Wer die Auslage einer Bäckerei aus den 80ern mit der „Snackbar“ eines modernen Backshops vergleicht, weiß, was ich meine: Wir sind zu blöde, Brot, Satat und Käse zu bevorraten, wir können daraus keinen Imbiss herstellen und vor allem.... wir haben keine Zeit dazu. Darum bezahlen wir zähneknirschend eine Summe für ein Designerbrötchen, mit der wir vor 10 Jahren eine warme Mittagsmahlzeit bestritten hätten. Wir sind auch kaum mehr in der Lage, dann und dort ein zu kaufen, wo es günstig ist. Tankstellen verkaufen überhaupt nur noch darum Benzin, damit sie die Bedürfnisse planungsunfähiger Egomanen vor und nach den Ladenöffnungszeiten zu Delikatessenpreisen befriedigen können. Ich glaube, wenn man eine nüchterne Energiebilanz ziehen würde

  • all die elegante Datenbearbeitung durch moderne Technik auf die eine Seite
  • all die verlorene Zeit, die Kosten, die Verblödung auf die andere Seite...

....ach was, ich glaube – wovon lebt denn die ganze Mischpoke von Dienstleistern, Werbefuzzis, Soft- und Hardwareherstellern?

Hmmmm....

Okay!
Wenn man also versuchen würde, all den Saugern aus dem Weg zu gehen – den Geist frisch und die Haltung aufrecht zu halten und ausschließlich das mitnehmen würde, was wirklich einen schlanken Fuß macht ?!?

Bei den Handys hört es schon auf. Der größte Posten auf meiner Telefonrechnung sind die Nummern, die ich anrufen muss, weil mein Gesprächspartner keinen Festnetzanschluss mehr besitzt. Das Gehampel am Rechner brauche ich nicht weiter beschreiben. Jeder hat mal damit angefangen, dass er einen Text bearbeiten wollte und verlor sich irgendwann im digitalen Nirwana. Grundsätzlich herrscht dort Beschaffungskriminalität und Updatedruck. „Kein Treiber für Win 98...“ Das kostet schnell eine Woche Arbeit, denn die alten Geräte laufen jetzt nicht mehr mit dem neuen Betriebsytem. Haha! Never change a winning team! Jeder Home PC ist so was ähnliches, wie eine Fußballmannschaft. Zusammengestellt mit Spielern aus aller Welt, zum Teil mit Altersflecken, zum Teil brandneu. Und jeder Fan ist heilfroh, wenn es ein mal läuft! Nicht berühren! Dennoch bringen Updates, Downloads, neue Geräte und ein paar Kleinigkeiten alles zum Kollabieren. Ständig! So werden die gewonnenen Vorteile der Zivilisation wieder vor dem Bildschirm zerrieben. Tausche Excel Tabelle gegen Wochenende!

Der Fortschritt saugt am Nutzer und wer ein mal damit begonnen hat, kommt nicht mehr davon los! Der XY Player bietet eine neue Version – möchten Sie downloaden? Nein – sie möchten nicht, aber die Dateien der Freundin laufen schon nicht mehr mit der alten Software. Also stimmen sie zu.
Mist – jetzt laufen die alten Dateien nicht mehr mit der neuen Software, aber es gibt ein Plugin, was das Problem löst. Möchten sie downloaden? Trappel, trappel, trödel, trödel....

Auch schön sind Datenbomben. Das sind Nachrichten mit Anhang von technisch aufgerüsteten Mitmenschen.
Mit stählerner Ignoranz schaut der Besitzer moderner Technologie am Rest der Welt vorbei. Mit 12 Mio Megapixel wird das arme Negerkind in Johannesburg digital eingefangen und sofort wird das 5 MB Bild durch die Welt gemailt. Da füllt dann allein die zerschundene Nase einen 17 Zoll Bildschirm. Ich bekomme Bilder von Freunden, die muss ich erst mal verkleinern, damit ich sehe worum es geht.
Besonders beliebt sind lustige Filme, die von unterforderten Verwaltungsangestellten unablässig durch die Welt geschickt und untereinander ausgetauscht werden. Mein Rechner liegt einen Vormittag lang flach, die Leitung beginnt zu schmoren, und am Ende darf ich mich an einem amerikanischen Werbespot für Hausratsversicherungen erfreuen.... Ich werf' mich weg! Allerdings als Ergebnis eines cholerischen Anfalls, erzeugt durch 45 Minuten sinnfreien Fingergetrappels vor einem ladenden Rechner...

Nein – ich habe keine Männerarm-dicken Datenkabel, die mit Stickstoff gekühlt werden. Ich habe weder W-Lan noch TDSL mit Nachbrenner. Aber ich werde sie mir kaufen müssen, damit ich den Müll so schnell wegwerfen kann, wie er mir von meinen modernen Zeitgenossen zugeschickt wird. So arbeite ich einen Teil des Tages dafür, damit ich mir die moderne Technik leisten kann. Den anderen Teil des Tages warte ich vor einer digitalen Sanduhr, denn die Datenmengen sind natürlich parallel mit der Technik exponential angewachsen. Es gibt aber schon wieder ein neues System, was eine nahezu unglaubliche Durchsatzrate hat. Und während ich mir vornehme, mich diesem Trend endlich eisern zu widersetzen, weil die Kosten dafür unverschämt sind, kalkuliere ich still den Zeitgewinn durch die superschnelle Technik.

So. Jetzt muss ich aber mit der Schreiberei aufhören. Der Pizzaservice hat geklingelt.